Serenity: Yes, but not now

Na, Ihr Besten?!

Gestern war ich in einem dieser Bastelshops, die im Grunde nichts anderes sind als ein Munitionslager für Menschen, die eine Heißklebe-Pistole besitzen und bereit sind, sie zu benutzen, um fragwürdige Teilchen an anderen fragwürdigen Teilchen festzukleben. Mein größter Akt von Selbstkontrolle ist es, mir nicht selbst eine Heißklebe-Pistole zu beschaffen. Fragwürdige Teilchen zum Festkleben gäbe es in meinem Haushalt zur Genüge.

Womit wir wieder beim Thema des letzten Posts wären: Die Sache mit der Kontrolle.

Ob ich mir so ein unnützes Klebeteilchen zulege, ist zu 100% in meiner Kontrolle. Ob meine Kinder oder andere Menschen, die mir nahestehen, sich zum Frühstück schon schwere Drogen zu Gemüte führen oder sich von ihrem Geld eine Klebe-Waffe kaufen, ist komplett außerhalb meiner Kontrolle. 

Ja, klar, natürlich könnte ich diese Menschen 24/7 überwachen oder einsperren, aber das erfordert einen organisatorischen Aufwand, den viele von uns nicht betreiben wollen. Die meisten greifen auf die üblichen Methoden zurück: Vorwürfe, ein schlechtes Gewissen machen, klebe-pistolen-artige Hilfsbereitschaft, Polizeiverhöre, „hilfreiche Vorschläge“ zu Lebensbereichen des anderen, die uns nichts angehen. 

Ich mein’s doch nur gut!“ sieht von außen ganz harmlos aus.

Im Grunde könnte frau sich da ganz einfach mit einer Heißklebe-Pistole eine kleine Tabelle basteln und Kreuzchen machen: „Kann ich kontrollieren / Kann ich nicht kontrollieren“ und gut isses.

Außerhalb meiner Kontrolle: 

Ob der/die andere Drogen bzw. Alkohol konsumiert, fremd geht, Geld verspielt, was und wie viel er/sie isst, ob er/sie mich liebt oder ihre/seine Finanzen in den Griff bekommt.

In meiner Kontrolle:

Ob ich selbst Drogen konsumiere, was und wie viel ich esse, was ich mit meinen Finanzen mache und ob dem anderen dabei zuschauen möchte, wie er Entscheidungen trifft, die mir Sorgen machen. 

Ob ich den anderen in meinem Leben haben möchte, wenn er/sie Entscheidungen trifft, die sich nicht nur negativ auf ihn, sondern auch auf mich auswirken.

Oh weh. Immer dasselbe. Immer gleich schwierig.

Hinter dem Wunsch etwas bzw. jemanden zu kontrollieren, das/der außerhalb unseres Einflusses liegt, steht die Sehnsucht, unsere Angst zu reduzieren. Und ja: Sorge ist nur ein schickeres Wort für Angst.

Diese Sehnsucht, angstfrei zu sein, ist auch der Ursprung von teils absurdem Perfektionismus und völlig überhöhten Ansprüchen an andere und uns selbst.

Im letzten Text hatten wir ein „Zeig mir, dass Du eine Angst-Thematik hast, ohne mir zu sagen „Ich habe Ängste“ – erinnert Ihr Euch?

Ein untrügliches Kennzeichen ist der leidend gehauchte Satz „Ich wurde so oft von Menschen enttäuscht!“. Dieser Satz heißt frei übersetzt: 

„Ich bin mit unrealistisch hohen Erwartungen an die Beziehung zu diesem Menschen herangetreten, habe Warnsignale ignoriert, nicht ernstgenommen, wenn er/sie mir mit Worten oder Taten gezeigt hat, wer er/sie wirklich ist. Ich habe mich an mein „Man kann doch wohl erwarten!“ oder „Das ist doch wohl normal!“ wie an einen Rettungsring geklammert und bin dann kläglich untergegangen.“

Dieses Pitbull-artige Festbeißen in überzogene Erwartungen ist wie eine Schnellstraße ins Unglück. Es macht uns bitter und böse.

Besonders schmerzlich wird es, wenn wir unerfüllbare Erwartungen an uns selbst richten; an unsere Karriere, an unsere Gesundheit, an unsere Leitungsfähigkeit, an unser Funktionieren. Wenn wir von uns erwarten wie ein Superheld unbesiegbar von einem Abenteuer ins nächste zu fliegen.

Krankheit, Disziplinlosigkeit und vor allem Ängste werden als ein Zeichen von Schwäche gesehen, für die wir uns nicht nur schämen, sondern die wir mit Brutalität versuchen auszumerzen.

Der Januar steht vor der Tür und mit ihm die Neujahrsvorsätze. Ihr wisst schon: Die Erwartungen an uns selbst, dass wir zwanzig Kilo abnehmen, rauchfrei werden, einen Marathon laufen – the whole shebang. Braucht doch nur Disziplin, oder?

Hach, ja. 

So lange wir glauben, dass wir mit Zusammenreißen und Disziplin weiterkommen und uns selbst behandeln wie ein Stiefkind im Märchen, wird’s nach meiner Erfahrung nicht mal ein halbes Shebang, sondern eher ein Shitty Shitty Bang Bang.

Gestern behauptete ich lax, das Gegenteil von Angst und Kontrolle sei Vertrauen. Wie aber vertrauen, wenn die ganze Welt voll ist von gefährlichen Heißklebe-Pistolen?

Was unsere Angst unter anderem so unerträglich macht, ist zu denken, dass wir dem, was da an potenziell Unschönem auf uns zu kommt, nicht gewachsen sind. Dass wir an der Herausforderung scheitern, die das Leben uns vor die Füße wirft, weil wir hilflos und überfordert sind.

Wie sollen wir mit all dem Schrecklichen fertig werden, was uns passieren könnte?

Meine Erfahrung zeigt, dass die meisten Menschen in schwierigen Situationen absurd über sich hinauswachsen und dass sie Wege finden. Nicht immer gute. Aber sie finden Wege.

Man muss kein Star Trek-Fan sein, um zu begreifen, dass Anpassungsfähigkeit eine der größten menschlichen Fähigkeiten ist. 

Achtung: ich behaupte nicht, dass es Spaß macht, sich in schwierigen Situationen anzupassen oder zu lernen, wie wir mit Schmerz, Trauer und Verlust umgehen. In meinem Leben durfte ich viele Menschen auf dem Weg durch schwere Krisen auf dem Weg zu persönlichem Wachstum begleiten – eine davon bin ich selbst.

Niemand, wirklich niemand, der plötzlich mit Schmerz und Leid konfrontiert ist, sagt: „Oh, klasse! Eine Gelegenheit zu persönlichem Wachstum! Juhu!“

Was wir jedoch mit den Jahren lernen können, ist zu sagen: 

„Ich werde jede Minute hassen und fluchen, und ich würde sonst etwas dafür geben, diese Situation nicht erleben zu müssen. Aber – ich kann Krise. Ich habe andere Krisen überlebt. Ich werde diese Krise auch bewältigen, ver*****te Hacke!“

Das ist echtes Selbst-Vertrauen. Es erfordert Mut, sich immer wieder daran zu erinnern. Und es ist ein erster, kleiner Weg aus der Angst:

„Was immer mir das Leben entgegenwirft, egal wie sehr ich es jetzt auch fürchte, ich werde irgendwie damit umgehen. Ich werde herausfinden, wo ich Hilfe bekomme, ich kann mich anpassen, und ich weiß, dass ich auch extrem unangenehme Zeiten aushalten kann. Ich werde die ganze Zeit fluchen, schimpfen, vielleicht weinen und mich bemitleiden. Aber ich kann das.“

Lies das nochmal.

Und jetzt mach’s Dir fein.

4 Kommentare EinSerenity: Yes, but not now

  • Claudia Clesius

    Super Artikel!

  • Mein Mantra für das Neue Jahr…
    Was immer mir das Leben entgegenwirft, egal wie sehr ich es jetzt auch fürchte, ich werde irgendwie damit umgehen. Ich werde herausfinden, wo ich Hilfe bekomme, ich kann mich anpassen, und ich weiß, dass ich auch extrem unangenehme Zeiten aushalten kann. Ich werde die ganze Zeit fluchen, schimpfen, vielleicht weinen und mich bemitleiden. Aber ich kann das.“

    Danke dafür und alles gute fürs nächste Jahr

Kommentare sind geschlossen.

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Viel Spaß beim Lesen!