Das sind keine Delphine

Na, Ihr Besten?

Die Sonne lacht mir ins Gesicht während ich in einem entzückenden kleinen Café auf mein Frühstück warte. 

Kürzlich gab es in meiner Online-Community eine heftige Diskussion um einen hochemotionalen Post. Eine Diskussion unter Fremden, die versuchen, sich allein mit am Handy getippten Worten auseinanderzusetzen, ist ja ohnehin schon nur so eine mittelgute Idee.

Dieser Post produzierte zwei Sorten von Reaktionen, weil er – Wartet mal, wie erkläre ich das?

Kennt Ihr diese Wechselbilder aus der Gestaltpsychologie, auf denen man zwei Dinge gleichzeitig sehen kann? Einen Hase und eine Ente? Eine Vase und zwei Gesichter im Profil?

Zu schreiben, dass man zwei Dinge gleichzeitig sehen kann, ist nicht ganz korrekt, denn das Gehirn schaltet zwischen Hase und Ente hin und her, weil es verzweifelt versucht, einen Sinn und eine Bedeutung in dem Bild zu erkennen. Hase – Ente – Hase – Ente – Hase.

Ihr kennt das.

Eine ganze „How I met your mother“ – Folge dreht sich darum.

In der Community teilte sich die Leserschaft in Hasen-Erkenner und Enten-Betrachter. Die einen sahen in dem Text des Postenden ein dramatisches, bemitleidenswertes Schicksal; die anderen sahen eine schlecht erzählte Lügenstory, wie es viele auf Social Media gibt.

Und dann passierte mir ein virtuelles Missgeschick: Ich erwähnte leichthin, dass der Post mE ein Fake sei.

Holla, die schlecht gelaunte Waldfee, flog es mir um die Ohren. Ob ich mir darüber im Klaren sei, wie furchtbar es für den armen, gebeutelten Menschen sein müsse, wenn ihm öffentlich kein Glauben geschenkt wird? Und ob ich Beweise nennen könne, dass es sich bei diesem Post um eine Ente und nicht um einen Hasen handelt? 

Los, Claire! Rechtfertige Dich! Wie kannst du es wagen, eine Meinung zu haben, die unser Mitgefühl für den armen Tropf und sein schreckliches Schicksal unnötig erscheinen lässt?

Wo ist die eidesstattliche Stellungnahme?! 

Bedauerlicherweise erinnerte ich mich erst in diesem Moment an das Phänomen der Wechselbilder. Vor allem an die Bilder, die weder Hase noch Ente zeigen. Eins von den interessanteren Wechselbildern zeigt ein Paar beim Sex bzw. zahlreiche Delphine. Dieses Bild ist faszinierend, weil kleine Kinder grundsätzlich nur die Delphine erkennen, nicht aber die andere Darstellung. Wie in der modernen Kunst gilt hier: Man sieht nur, was man kennt. 

Dass einige Erwachsene Schwierigkeiten haben, die Delphine zu finden, sei mal außer Acht gelassen.

Plötzlich kam ich mir vor, als ob ich von einem Vierjährigen mit vorgehaltener Lego-Pistole gezwungen werde, ihm zu erklären, warum ich sage: Es sind nicht ausschließlich Delphine auf dem Bild zu sehen.

Dünnes Eis.

Nun war ich ja mit meiner Wahrnehmung nicht allein. Also entspann sich eine heftige Diskussion zwischen denen, die schrieben: „Das sieht man doch auf den ersten Blick“ und den anderen, die fragten „Soll das heißen, ich bin blöd, weil ich es nicht sehe?!“

Nicht blöd. 

Unverdorben. Vielleicht ein wenig leichtgläubig.

Leichtgläubig zu sein ist kein Fehler. Leichtgläubig sind zum einen Menschen, die noch nie belogen wurden. Zum anderen finden wir oft fehlendes Misstrauen bei Menschen, die in ihrer Kindheit nicht lernen konnten, ein gesundes Gefühl für richtig und falsch zu entwickeln. 

Ein Kollege erzählte oft, dass sein alkoholkranker Vater bisweilen beim Abendbrot mit dem Kopf auf dem Teller eingeschlafen sei, weil er so betrunken war. Seine Mutter kommentierte das üblicherweise mit: „Vater hat so hart gearbeitet, um uns dieses schöne Leben zu ermöglichen, dass er jetzt müde ist. Wir sollten ihn ins Bett bringen.“

Kinder, die mit solchen „Erklärungen“ aufwachsen, können keine nüchterne Wahrnehmung für ihr Umfeld lernen. Sie neigen dazu, automatisch das Fehlverhalten anderer Menschen zu entschuldigen, zu rechtfertigen und Fehler im Verhalten des anderen bei sich selbst zu suchen. 

Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. 

Womit wir wieder bei unserem Lieblingsklassiker wären: Verdrängung.

In der Internet-Debatte um Lüge oder Wahrheit machte sich die ein oder andere Mitstreiterin die Mühe, ausführlich zu erklären, warum sie den Text für ein Märchen halte. Warum die exhibitionierten Gefühle vermutlich ebenso fantasiert sind wie der Rest der Geschichte.

Nun könnte man annehmen, dass auf diese detaillierte Erklärung ein „Ach soooo!“ folgte.

Weit gefehlt. 

Es folgte noch mehr Empörung und Verärgerung. Denn das, was wir im anderen wahrnehmen, wirkt sich auch auf unsere Selbstwahrnehmung aus:

Wenn wir den anderen als ein bedauernswertes Wesen sehen und ihn mit unserem Mitgefühl bedenken, dann sind wir gute Menschen. 

Wenn wir jemanden mit Mitgefühl überschütten, der uns verarscht hat, dann halten wir uns für Deppen.

Was natürlich nicht stimmt.

Wenn wir jemanden Mitgefühl geschenkt haben, der uns belogen hat, dann sind wir immer noch gute Menschen – aber der andere ist ein (Fügen Sie hier eine eloquente Beleidigung Ihrer Wahl ein).

Der Wunsch an unserer guten Meinung über einen anderen Menschen festhalten zu wollen, macht uns leider zu leichten Opfern für die Menschen mit den interessanteren Persönlichkeitsstörungen.

Der Impuls, uns selbst abzuwerten, wenn wir Opfer solcher Menschen geworden sind, spielt ihnen in die Hände. Niemand ist ein Depp, wenn er/sie Opfer von Manipulation und Lüge geworden ist. Niemand sollte sich schämen, wenn er von einem anderen ausgenutzt wurde, weil ihm/ihr das nötige Misstrauen fehlt.

Was den Post angeht: Im besten Fall genießt da jemand einfach nur virtuelle Aufmerksamkeit, die ihm im wirklichen Leben fehlt. Im schlimmsten Fall sondiert er potentielle Opfer.

Deswegen bleibe ich auch in Zukunft dabei immer mal wieder zu sagen: 

Sorry, aber das sind keine Delphine.

Macht’s Euch fein.

1 Kommentare EinDas sind keine Delphine

  • Andrea Sibbers

    Liebe Claire, sehr schön erklärt!
    Ich meine: lieber ein Optimist, der sich mal irrt, als ein Pessimist, der immer recht hat.
    Ich halte mich für eine optimistische Skeptikerin.
    Ich hoffe auf das Gute, aber ich zweifle häufig. Deshalb beteilige ich mich gar nicht erst an solchen Diskussionen- freue mich aber immer an und über Deine Texte. Danke! Bleib so, bitte
    Liebe Grüße, Andrea ( anno2018)

Kommentare sind geschlossen.

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