Das ging ja jetzt schnell: Fridolin kehrt zurück in meine Gedanken – und in dieses Blog. Mit dem „Fridolin-Syndrom“ bezeichne ich dieses Phänomen, dass es einigen von uns so schwer fällt, sich von jemandem zurückzuziehen, der uns schädigt (hier als Fridolin bezeichnet). Dass wir ganz im Gegenteil diesen Menschen noch hofieren und umwerben, um ihn gnädig zu stimmen. Und dass wir unseren Kummer und unsere Wut an Stellen freien Lauf lassen, die völlig unpassend sind.
Ob es ein Elternteil ist oder ein Partner, der sich wie ein Fridolin benimmt, ist eigentlich egal; das Muster ist sehr ähnlich: Aus Angst vor weiteren Repressalien sind wir hilfsbereit bis zur Selbstaufgabe und versuchen, dem anderen das Leben zu versüßen und seine Laune aufzuhellen. Denn Gnade uns Gott, wenn seine Laune schlecht ist.
Wir versuchen, der gute Sohn oder die gute Ehefrau zu sein, wir kreisen um unsere Selbstoptimierung, um möglichst wenig Angriffsfläche für Kritik zu geben und machen meist die Erfahrung, dass es nichts nützt.
Während ich das so schreibe, drängt sich eine Frage immer wieder schreiend auf: Warum bleibt jemand in solchen Beziehungen?
Einige Gründe habe ich in den letzten Texten schon beschrieben, aber es gibt noch einen weiteren: Wir haben mit diesen Menschen oft Verstrickungen auf unterschiedlichsten Ebenen. Das kann finanzieller Natur sein, dass sie uns oder wir ihnen Geld schulden, dass wir auf ihrem Grundstück leben, dass wir in ihrer Firma arbeiten oder schlicht gemeinsam Kinder haben.
Ihr ahnt es schon: Unabhängigkeit beginnt mit dem Auflösen dieser Verstrickungen, so schwierig es auch ist.
Es gibt allerdings noch einen weiteren Grund, warum wir in diesen Beziehungen bleiben und uns bisweilen nicht mal schmerzlich bewusst ist, wie destruktiv diese Beziehungen sind: Nicht jede Bosheit ist offensichtlich. Oft ist unsere Wahrnehmung verzerrt. Oft blenden wir aus, dass wir es mit einem Fridolin zu tun haben.
Für viele von uns ist es schwierig, jemanden an seinen Taten und nicht an seinen Worten zu messen. Wenn nur oft genug der Satz „Ich liebe Dich!“ fällt, dann MUSS der andere doch voller Liebe für uns sein, dann MUSS seine Lieblosigkeit im Verhalten doch andere Gründe haben.
Dann liegt es vielleicht doch an uns. Wahrscheinlich liegt es an uns. Mit uns stimmt etwas nicht. Wir sind nicht gut genug. Ganz klar.
So zumindest lauten unsere Gedanken.
Wenn ich mit Menschen arbeite, die sich selbst massiv schädigen, obwohl sie intelligent und gebildet genug sind, um zu verstehen, dass ihr Verhalten keine gute Idee ist, dann ist da oft jemand im Umfeld, der ein Fridolin ist.
Dann gab es oder gibt es jemanden, der Grenzen überschreitet oder einen nicht beschützt, der einen emotional ausbeutet – aber die Aggression und der Hass gegen ihn darf nicht an die Oberfläche des eigenen Bewusstseins kommen.
Schließlich – wozu wahrnehmen, dass wir einen Fridolin in unserem Leben haben, dass wir wütend auf ihn sind, wenn wir fürchten, bei der leisesten Kritik massive Strafen erdulden zu müssen?
Der Hass und die Wut in uns sind trotzdem da. Und so, wie sich ein Tischtennisball nicht gut unter Wasser drücken lässt, so findet die Wut ihren Weg:
Welcome to Selbstverletzung.
Menschen, die sich selbst verletzen, wird üblicherweise ein Selbsthass bescheinigt. Klingt auch erstmal logisch. Und das entspricht auch dem, was sie äußern: Menschen, die sich selbst verletzen, hauen Sprüche über sich und ihren Körper raus, die einem die Haare zu Berge stehen lassen, weil sie so viel Abwertung, Bosheit und Respektlosigkeit in sich haben.
Nach all den Jahren in meinem Job festigt sich bei mir der Eindruck, dass es eigentlich nicht um Selbsthass geht.
Der Selbsthass ist eine Unterform des Fridolin-Syndroms: Da wir den, der uns schädigt, nicht hassen und verletzen dürfen, richten wir die Aggression gegen den Körper, der uns zur Verfügung steht: unseren eigenen.
Ob das jetzt wirklich der Griff zur Rasierklinge ist, ob das exzessiver Drogen- oder Alkoholkonsum ist, ob es sich um Over-Eating oder den Versuch, sich selbst verhungern zu lassen, handelt, ob es der kreisende innere Monolog der Selbstbeleidigungen in unserem Kopf ist – Selbstschädigung hat viele Gesichter.
Die Fragen, die Menschen, der/die sich selbst verletzen, sich stellen könnten, können sein:
Wer hat Dir so viel Schmerzen zugefügt?
Wessen Verhalten lässt Dich verzweifeln?
Wer hat Dir wehgetan und womit?
Vor wem hast Du Angst?
Not-so-Fun-Fact:
Vielleicht kommt sogar noch die Antwort „Person X“ oder „Person Y“. Wie das Amen in der Kirche wird als nächstes die Antwort kommen: „Aber er hat es nicht so gemeint“, „Sie ist doch meine Mutter!“, „Das war ja nur, weil…“ oder „Ich war ja auch ein schwieriges Kind…“ oder „Das macht er nur weil…“ und – der allseits beliebte Hit: „Aber ich liebe ihn doch!“ gefolgt von dem noch beliebteren Lied: „Er sagt aber immer, er liebt mich.“
Hach, Liebe.
Wir erinnern uns an die Worte unseres alten Freundes Chuck Spezzano: „Wenn es weh tut, ist es keine Liebe.“ Für die Betroffenen fühlt es sich an wie „Liebe“, weil sie oft gar nicht wissen, woran man echte Liebe erkennt.
In den meisten Fällen kommt jedoch die Antwort: „Niemand hat mir wehgetan. Ich hatte sooo eine glückliche Kindheit.“ oder „Meine Beziehung ist glücklich.“
Den Täter unseres Unglücks benennen und zu erkennen, ist ein so großes Tabu, dass das Gehirn sämtliche Strategien von Verdrängung aktiviert.
Zuhörende erleben in diesen Gesprächen oft das wenig bekannte Luc-Teyssier-Phänomen. Ihr erinnert Euch an die 90er als Kevin Kline eben jenen Luc Teyssier spielte, der Meg Ryans endloses Geblubber im Film „French Kiss“ über ihre angeblich so glückliche Beziehung mit den Worten kommentierte:
„Wenn jemand so betont, dass er glücklich ist, krieg ich in meinem Arsch Zuckungen.“
Sobald Ihr also beim Zuhören von idealisierten Lebensgeschichten Zuckungen bekommt, besteht die leise Möglichkeit, dass euer Gegenüber eine Geschichte erzählt, mit der er/sie sich selbst belügt.
Beobachtet das mal bei Euch selbst: Authentische Geschichten sind glaubwürdig und führen zum Entspannen der Muskulatur des Zuhörers. Niemals zu Zuckungen.
Für heute ist es das.
Aber, Ihr ahnt es schon – es geht an dieser Stelle weiter.
Macht’s Euch fein!
Ich bin so wie viele andere ein grosser Fan von Claire Mond und habe in der ww-Community immer mal wieder auf deine Beitraege geantwortet (als kerala08). An dieser Stelle Folgendes: Vor einigen Jahren habe ich begonnen, den Fridolin in meinem Leben zu hassen, zumindest punktuell, und punktuell habe ich mit extremen Wutanfaellen auf ihn reagiert, was natuerlich nicht schoen ist, mir aber vermutlich das Leben gerettet hat. „Mein“ Fridolin hat uebrigens nie gesagt, dass er mich liebt. Und auf Nachfrage des Therapeuten sagte er in einer Paarberatung, dass er mich NIE geliebt habe. Am Anfang sei er verliebt gewesen, das schon, aber Liebe habe es von seiner Seite nie gegeben. Schoen, das nach 18 Jahren Beziehung zu hoeren. Ich dachte/fuehlte immer, dass ich nur „gut genug“ sein muss, damit er mich endlich liebt. Aber dieses „Gut genug“ kann bei einem narzisstisch strukturierten Menschen nie erreicht werden. Aber nun bin ich ja endlich weg (raeumlich). Als Vater meines Kindes spielt Fridolin aber weiter eine Rolle in meinem Leben. Das gut zu wuppen und dabei nicht unterzugehen ist nun die naechste Aufgabe. Danke fuer diesen oder diesea Blog. ☺