Na, Ihr so? Alle? Am sonnigen Feiertag?
Als stolze Tante muss ich heute kurz mal Werbung machen: Morgen Abend läuft in der ARD um 20:15 „Zimmer mit Stall“, wo meine Nichte Rebecca mitspielt.
Um mal gleich vorneweg alle Fragen zu beantworten, die ich auf diese Werbe-Nachricht von einigen meiner WhatsApp-Kontakten bekam: Ja, die machen das hautberuflich und ernsthaft. Meine Nichte ist noch in Ausbildung, meine Schwester schon etwas länger fertig mit der Ausbildung. Meine jüngere Nichte wurde gerade ganz frisch an einer Schauspielschule angenommen.
Ja, meine Nichten wissen sehr genau, worauf sie sich einlassen. Nein, sie haben keine Starallüren, die lernen ein Handwerk. Nein, in unserer Familie gibt es nicht mehr kreative Gene als bei anderen.
Was es lediglich bei uns gibt, ist die Idee, dass jede von uns ihre eigenen Entscheidungen für ihr Leben treffen muss – und andere da verd*******nochmal da nicht rein zu quatschen haben. Meine Familie ist in Teilen wirklich mit Vorsicht zu genießen, aber in dem Punkt gibt es Einigkeit.
Was es bei uns noch gibt, ist die Idee, das „Kreativität“ etwas ist, das wir tun – und nicht etwas, das unsere Identität definiert. Kreativität gehört zum Leben, darf Spaß machen – und wer Bock drauf hat, kann probieren, einen Beruf draus zu machen. Wenn er dann feststellt, er hat keinen Bock mehr, macht er etwas anderes. Mein Bruder hat zB länger als Fotograf gearbeitet bevor er Jurist wurde. Kreativität ist eine Freiheit, aber keine Verpflichtung. Kreativität soll Spaß machen, kann, aber muss keine Biografie vorgeben.
Das ist die Kehrseite von Kreativität: Für manche Menschen geht da ein gewisser Automatismus los, aus allem einen Beruf machen zu müssen: Ein Kind malt mit Begeisterung, schon haut jemand den Satz raus: „Ach, der wird mal Maler!“. Ein Kind hat Freude im Garten mit Pflanzen: „Der wird mal Gärtner!“. Ein Kind hat Freude, deinen Kumpels neue Nasen zu verpassen: „Ach, die wird mal Schönheitschirurgin!“ – Nee, Stop. Da war ja was.
Anscheinend gibt es einen Wunsch, Menschen nach ihren Tätigkeiten zu klassifizieren. Aus dem, was jemand tut, eine Identität zu machen. Dann wäre ich also… die Spaziergängerin? Ich kann nämlich ausgezeichnet spazieren gehen. Oder wäre ich Vergolderin, weil ich letztes Jahr mal einen Buddha vergoldet habe?
Das schlimmste ist, dass bestimmte Tätigkeiten völlig mit Erwartungen an eine Identität überfrachtet sind. Wenn ich also Freude am Malen oder am Schreiben habe, dann muss ich nicht nur notgedrungen Malerin oder Schriftstellerin sein; nein, ich muss auch mit dieser Tätigkeit meine komplette Identität ausfüllen.
Puh, was für ein Druck. Mit jedem Bild, das ich male, mit jedem Text den ich schreibe, steht dann auf dem Spiel, ob ich eine Identität als Künstlerin haben darf? Dann wird mein Leben plötzlich sehr anstrengend
Noch schlimmer wird es, wenn ich mit dieser Identität einen kompletten Lebensstil verbinde: Wenn ich denke: als Schriftstellerin muss ich mit einem aufgespannt den Schirm im Bett liegen und eine Zipfelmütze tragen, wie auf diesem Bild von Spitzweg… Wenn das automatisch gegeben wäre, würde ich nie wieder einen Text schreiben.
Ok, oft sind haben Menschen positive Fantasien zu diesen Identitäten: Wenn ich mal Schauspielerin / Malerin / Künstlerin bin, dann wird mein Leben ganz anders sein:
Das Penthouse, die Fanpost, nur noch Champagner zum Frühstück, tiefsinnige Gespräche mit anderen wichtigen Künstlern, einen weißen Pudel-Pitbull-Mix, Porzellan von Hedwig Bollhagen… ach, was weiß ich denn! Das kann eine Motivation sein. Oft sind die Fantasien auch sehr angstbesetzt: Absagen, schlimme Kritiken, Armut, Pappbecher, ein humpelnder Hamster, saufende Nachbarn.
Wenn die eigene Identität an diesen Bilden hängt, heißt das bei Fantasie 1: ich bin Gottes Geschenk an die Menschheit. Wenn jedoch Fantasie 2 wahr würde, welchen Wert habe ich dann noch?
Schrecklich, oder?
Wenn es um Kreativität geht, finde ich deswegen diese alte Frage bedenklich:
„Was würdest du tun wenn du wüsstest, dass du nicht scheitern kannst?“
Denn in jedem Job – egal wie unkreativ – bei jedem Unterfangen können Menschen scheitern. Und das macht ihnen üblicherweise Angst. Diese Angst hindert sie, bestimmte Dinge zu tun. Als Antwort kommt vielleicht: Ich würde diesen Roman schreiben, dieses Bild malen, diese Fotos veröffentlichen.
Und dann gehen sie zurück in ihren Alltag, und die leise Stimme im Kopf sagt: „Ja, aber Du weißt schon, dass Du doch scheitern kannst, Du Depp? Lass bloß die Finger davon, das geht nur in die Hose.“
Die Frage weckt vielleicht Träume; sie baut aber keine Straße zu meinem Ziel. Besser finde ich die Frage:
„Was würdest du tun, auch wenn du wüsstest, dass du mit dieser Tätigkeit niemals Erfolg haben wirst? Welche Tätigkeit liebst du so sehr, macht dir so viel Spaß und ist ein so wichtiger Bestandteil deines Leben, dass du sie auch dann noch machen würdest, wenn du niemals eine Identität darauf aufbauen kannst?“
Vielleicht ja eine Frage für einen Spaziergang an diesen wunderschönen Maitagen. Für mich ist es, wie Ihr wisst, das Schreiben. Wenn alles gut läuft, kann ich nächste Woche mein neues Buch veröffentlichen. Für meine Nichten ist es schauspielen.
Und ob sie nun in fünf Jahren in einem Theater in Posemuckel oder in Hollywood sind, ob sie sich umentscheiden und BWL studieren oder einen Biobauernhof in der Uckermark aufmachen: dann ist das so.
Für mich als Tante gilt das gleiche Motto, das ich seit vor ihrer Geburt sage: Hauptsache gesund!
Macht’s euch fein.