„Sorry, aber das ist meine erste Pandemie!“

Leute, falls Ihr Euch fragt, der Satz da oben wird ab jetzt meine Ausrede für alles. Wahlweise werde ich sagen, wenn jemand irgendetwas in meinem Umfeld kritisiert, ich hätte in einem beruflichen Szenario gerade nicht schnell genug Entscheidungen getroffen:  „Bei der nächsten Pandemie bin ich besser vorbereitet.“

Heute auf meinem Spaziergang mit meiner Sportsfreundin überlegten wir, wen wir fragen könnten, worauf wir uns bei einer Pandemie einstellen sollten; frei nach dem Motto: Sach mal, wie war das eigentlich damals, bei der Spanischen Grippe?

Mir fiel meine wunderbare Großmutter ein (*1895), die ein heiteres Schatzkästen von Anekdoten und Geschichten und mir sehr zugetan war.

Nur finde ich in meiner Erinnerung an ihre Erzählungen maximal so Sätze wie: „Ist ja keine spanische Grippe“. Aber erzählt hat sie davon sonst nie. Es wird vermutlich so sein, dass die beiden Weltkriege, der Verlust von Bruder und Sohn, die Revolution 1918, Hungersnöte, das Leben in einem faschistischen System, der Mauerbau, die Luftbrücke und das große Abenteuer, bei dem ich als Kleinkind unter ihrer Aufsicht fast in die Spree gefallen wäre, sie deutlich mehr beeindruckt haben, denn über diese Erlebnisse sprach sie häufig.

Mir war immer klar, dass meine Großmutter ein hartes Leben hinter sich hatte, aber dass sie eine Pandemie so glatt aus ihren Erzählungen streicht? Mit absoluter Sicherheit hat sie nicht jeden Tag im Internet internationale Verdopplungszahlen im Vergleich gegoogelt oder bang darauf geguckt, ob die Ansteckungsrate von 0,7 wieder hochschnellt. Genetflixt hat sie garantiert auch nicht. Zu wenig Peter Alexander auf Netflix, vermute ich.

Also bleibt mir nur das zu tun, was in den Selbsthilfegruppen der Anonymen Alkoholiker ebenso gefeiert wird wie bei den Stoikern vor über 2000 Jahren: mich immer wieder fragen, was in meiner Kontrolle liegt und was auch beim besten Willen außerhalb meiner Kontrolle liegt und mich dann auf das zu fokussieren, was ich kontrollieren kann.

Vermutlich wird es beim Segeln auch so sein, dass wir dem Wind nicht sagen können: „Kannst Du vielleicht irgendwie mal aus der anderen Richtung pusten, das ist jetzt gerade sehr ungünstig.“, sondern uns einfach darauf einstellen müssen. Vermutlich hilft es auch beim Segeln, die Windrichtung als gegebene Tatsache zu akzeptieren. Verdrängung, Ignorieren und Bockigkeit … ok, warum nicht dem Wind entgegen brüllen: „Mir doch egal! Ist mir völlig egal, von wo Du wehst! Ich mach sowieso, was ich will!“

Eigentlich nicht erstaunlich, dass viele von uns gerade so viel Freude am Backen haben: zumindest für die, die sich an ein Rezept halten können, vermittelt es das Gefühl von Kontrolle. Ach ja, nebenbei bemerkt: mein Hefeteig ruht gerade.

Neulich schrieb eine von uns: „Jetzt mit Corona habe ich eine gute Ausrede: Ich sterbe ja sowieso, warum dann auf die Schokolade verzichten?“ Du, Liebe, ich kenne dieses Gefühl nur zu gut – und ich bin sicher, wir beide sind da nicht allein. Die Antwort ist ganz einfach: 

Es gibt eine realistische Wahrscheinlichkeit, dass wir das ebenso überleben wie meine Großmutter damals. Dann brauchen wir unseren Körper noch für viele andere Dinge als einfach nur ein schickes Hemdchen vom Bestatter zu tragen. 

Vielleicht brauchen wir ihn für Parties oder Straßenkämpfe (ja, ich bin Berlinerin und gestern war erster Mai. Straßenkämpfe sind bei uns jedes Jahr Thema, auch wenn ich nie teilnehme), zum Schwimmen im See oder um eine zerstörte Stadt wieder aufzubauen, zum Tanzen oder um fit zu sein für die Flucht. Oder einfach nur um etwas gesünder zu sein, falls nichts passiert.

Macht’s Euch fein.

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Coronalender, Selbstfürsorge,

Letzte Änderung: 30. Mai 2020