Liebe Claire,

Ich hab sehr lange über den Erinnerungsteich nachgedacht: aufgewachsen bin ich mit einer Mutter, die vermutlich eine narzisstische Persönlichkeitsstörung hat. 

In den letzten Jahren habe ich verschiedene Therapien gemacht, vor allem, weil ich meinen Kindern eine gute Mutter sein wollte – und vor allem nicht so werden wollte, wie meine eigene Mutter war. Auch wenn ich manchmal glaube, die Therapien haben mir geholfen zu überleben, „geheilt“ haben sie mich nicht – einige therapeutische Methoden haben die Dinge noch schlimmer gemacht. Denn ich gerate irgendwie immer wieder an solche Menschen: Partner, Kollegen, Bekannte. Vor allem brauche ich lange, bis ich es merke und dann versäume ich, mich zu schützen – jedes Mal.

Ich habe das Gefühl, in der Vergangenheit festzustecken und niemals im Hier und Jetzt leben zu können.

Ich weiß, es geht bestimmt nur mit Frieden machen oder verzeihen – aber das gelingt mir nicht. „Wer die Vergangenheit nicht bewältigt, durchlebt sie in der Gegenwart“ hat mir einmal ein Therapeut gesagt.

Liebe Grüße, Kim.

Liebe Kim,

So wie Du es beschreibst, geht es unglaublich vielen Menschen, die eine traurige Kindheit hatten: Das Gefühl, wie in Wachs gegossen in diesen Mustern festzustecken, und sie immer und immer wieder zu von neuem zu durchleben.

Deinem Therapeuten gebe ich zumindest in einem Punkt Recht: Schmerzlichkeiten, die aus der Vergangenheit stammen, können uns in der Gegenwart durchaus wieder begegnen. Ich denke allerdings nicht, dass wir erst die Vergangenheit bewältigen müssen, bevor wir die Gegenwart bewältigen können, sondern, dass es auch andersherum funktionieren kann: 

Wir bekommen quasi eine Art Aufgabe oder „Lektion“ öfters im Leben präsentiert, bis wir daraus lernen, uns verändern und dann anderen Lektionen begegnen. 

Beispiel?

Wer aus einer Familie von Grenzverletzern stammt, konnte vermutlich nur schwer lernen, sich abzugrenzen. Später im Leben haben wir vielleicht mehr Ressourcen, wir lesen Bücher, holen uns Hilfe, suchen uns Vorbilder. Wenn uns also wieder Grenzverletzern begegnen – und wir werden ihnen begegnen – können wir üben und lernen, wie wir uns abgrenzen wollen. Logisch, dass das nicht sofort und beim ersten Mal klappen kann. 

Vielleicht hilft es für den Anfang, sich nicht mehr vorzuwerfen „ Ich bin so dämlich. Wieso gerate ich immer an solche Arschlöcher?!“, sondern den Menschen anzugucken, der uns gerade das Leben schwierig macht und sich ihn/sie als eine Art „Professor auf der Durchreise“ vorzustellen (wie Glennon Doyle mal so schön sagte). 

Ein Professor auf der Durchreise, der eine Lektion verkörpert, die wir noch nicht abschließen konnten, die sich uns schon in der Kindheit gestellt hat.

Wir lernen und entwickeln uns durch die Auseinandersetzung mit anderen Menschen – nicht, weil wir auf dem Sofa liegen und Netflix gucken. Was ich übrigens öfters zutiefst bedaure. 

Wir lernen durch Interaktion, durch Gespräche und Begegnungen. Manche Lektionen sind nur leider wie Turnstunden in der Grundschule, und wir sind das dicke Kind, das wie ein nasser Sack unten an den Seilen hängt. 

Und das ist auch ok.

Nicht ok ist es, sich für die Lektion zu verdammen, sich zu beschimpfen und sich übel zu nehmen, dass wir das Seil noch nicht hochklettern können. Hilfreicher ist es, sich so nüchtern wie möglich, so sachlich und pragmatisch wie möglich zu fragen: „Ok, wie kann ich das mit den Seilen lernen? Es wird vermutlich anstrengend, und es wird eine Zeit lang dauern. Vielleicht brauche ich Hilfe. Mit Sicherheit brauche ich Ermutigung, Ermunterung und Geduld. Ich werde üben und verschiedene Dinge ausprobieren; einiges wird klappen, anderes nicht. Aber früher oder später werde ich es lernen. Und immerhin hänge ich schon mal am Seil!

Du siehst: Es ist ein Prozess, keine Wunderheilung. Ein Prozess, der damit beginnt, dass wir jeden noch so kleinen Schritt würdigen und anerkennen. Dass wir aufhören, uns zu beschimpfen.

Therapie bedeutet nicht, die Therapeutin sagt etwas Schlaues und plötzlich sind wir über Nacht geheilt. Therapie bedeutet, jemand fragt uns etwas, das uns zum Nachdenken bringt. Sie/er guckt mit uns aus einer anderen Perspektive auf unser Leben und – wenn es denn gut läuft – regt uns an, in unserem wirklichen Leben Neues auszuprobieren: neues Verhalten, neue Kommunikationsarten, ein neuer Umgang mit uns selbst.

Die echte Therapie findet draußen im Selbstversuch mit uns selbst statt. Das therapeutische Gespräch sollte im Idealfall der Ort sein, an dem uns jemand ermutigt, ermuntert und uns immer wieder das Gefühl gibt: „Du bist nicht allein und das hier ist eine Phase, nicht Dein Leben. Das was Dir passiert ist, hat Dich geprägt und vielleicht Narben hinterlassen, aber es definiert Dich nicht.“ Die echte Arbeit passiert draußen.

Für heute erst mal so weit, aber – Du ahnst es schon: Da kommt noch etwas.

Mach’s fein.

Deine Claire

Letzte Änderung: 4. Juli 2021