Kürzlich stellte mir jemand die Frage: „Wie wird man eigentlich ein Fridolin?“ Ach, dachte ich, was für eine verführerische Hängebrücke aus morschem, fauligem Holz, die sich da vor meinen Füßen auftut.

Natürlich gibt es eine Menge interessanter und fachlich logischer Erklärungsweisen, wie aus einem charmanten, minderjährigen Miezekätzchen ein ausgewachsener Fridolin wird, der es versteht einen potentiell stärkeren „Gegner“ einzunorden. Der gewohnt ist, andere Wesen in potentielle Gegner und Opfer einzuteilen.

Für mich gibt es allerdings eine viel wichtigere Frage: Warum möchte die Fragende so gern wissen, wie ein Fridolin entsteht? Wir erinnern uns: der/die Fragende ist schließlich ein potentieller Pitbull.

Fragt sie/er sich bei Regen auch: „Mensch, wie ist denn jetzt dieses meteorologische Tief entstanden?“ oder spannt sie einfach einen Schirm auf? Wenn mitten in der Nacht ein Feuer in der Wohnung ausbricht und alles in Flammen steht, geht sie/er mit der Taschenlampe los und sucht den Brandherd oder bringt sie sich in Sicherheit?

Es mag meine abgrundtief verdorbene Art zu denken sein, aber nach meiner Erfahrung ist der Wunsch, zu verstehen wollen, warum ein Mensch zum „Fridolin“ wurde, die Türklinke zur Hölle – vor allem, wenn man einen in seinem eigenen Leben hat.

Ok, das war jetzt vielleicht falsch ausgedrückt. Es ist der Beginn des Untergangs und das Tor zur eigenen Vernichtung. Denn hinter dieser Frage steht in den allermeisten Fällen eine Sehnsucht: 

„Wenn ich verstehe, wie er/sie so geworden ist, dann finde ich einen Weg, ihn/sie zu ändern. Dieses Wissen wird mir die Möglichkeit eröffnen, Fridolin zu ändern, ihn/sie zu heilen, ihn/sie zu retten – und wenn er erst geheilt ist, dann wird er/sie mich besser behandeln und dann sind wir endlich glücklich.“

Ach ja, schön wäre es.

Es wäre übrigens auch schön, wenn Einhörner die S-Bahn ziehen würden. Und wenn ein 200m/2 Loft in Berlin für 500 € zu mieten wäre. 

Also: ich gönne jeder und jedem von Euch von ganzem Herzen, dass sich dieser Wunsch erfüllt. Es entspricht nur eben nicht meiner Erfahrung. Und es entspricht nicht der Erfahrung fast aller anderen Menschen, die sich an einem Fridolin abgearbeitet haben oder den Kolleginnen, denen fridolinisierte Menschen im therapeutischen Kontext begegnen.

Fridolins Probleme muss Fridolin selbst lösen – nicht  wir. Wenn Fridolin geheilt werden möchte, muss er sich selbst bewegen und sich eine eigene Therapeutin suchen.

Der Wunsch, zu verstehen, ist so weit verbreitet: Wenn wir nur endlich begreifen, warum der/die andere so ist, dann finden wir vielleicht die „Türklinke“ zu seinem Herzen; dann können wir auf ihn/sie einwirken, damit er/sie sich ändert, geheilt wird und uns endlich liebt. Dann könnten wir doch vielleicht aus einem „Bad Boy“ einen tollen Familienvater und Ehemann machen. Oder aus einer Eisprinzessin eine liebevolle Mutter und Partnerin.

Im krassesten Fall wird dieses Szenario nicht mal mehr kritisch hinterfragt, sondern idealisiert. Anscheinend drehen sich eine Menge sehr erfolgreicher „Liebesromane“ für Frauen um solche Konstellationen: Der männliche Protagonist ist empathiefrei, grausam, übergriffig und gewalttätig, die weibliche Protagonistin liebt ihn so lange so dolle, bis er aufwacht, sich ändert und dann sind sie ganz klassesupertoll glücklich. Also voll aus dem wirklichen Leben! 

Solche Geschichten suggerieren: Wenn Dein „Er“ oder Deine „Sie“ noch nicht die Wandlung zum liebenden Schmetterling vollzogen hat, dann hast Du ihn/sie nicht genügend manipuliert, äh geliebt! Ist doch logisch! Oder Du bist zu fett, und Du BIST eben nicht liebenswert, ganz klar. Streng Dich halt mehr an, Du fettes, häßliches, dummes Versager-Ding! Mach wenigstens ’n Poledancekurs, Du Lusche! (Traditionelle Männer, die mit einem Fridolin verheiratet sind, machen natürlich keinen Poledancekurs. Sie glauben, sie müssten beruflich erfolgreicher sein und mehr Geld verdienen. Logisch!)

Boh. Wo war ich? Ach ja.

Hinter dem Wunsch, den anderen psychologisch verstehen zu wollen, steht der hoffnungslose Versuch, sich aus der Hilflosigkeit befreien zu wollen. Wenn wir den anderen durchschauen und verstehen, dann können wir ihn vielleicht kontrollieren. Dann sind wir ihm nicht mehr ausgeliefert, sondern er wird tun, was wir wollen. 

Und noch besser – wie unten in dem Zitat aus der Serie Frasier beschrieben – das psychologische Verständnis schafft bisweilen einen wunderbaren Sicherheitsabstand zwischen uns und all den schmerzlichen Gefühlen. Es schafft eine Hierarchie und eine Distanz, die in liebevollen, echten Beziehungen nichts zu suchen hat.

Diese Mischung aus Größenwahn („Ich kann ihn ändern, wenn ich nur die Schraube finde, an der ich drehen muss!“) und Minderwertigkeitsgefühlen („Ich finde ohnehin nichts Besseres, weil ich zu blöd/fett/ nicht liebenswert bin / mit mir etwas nicht stimmt.“) dient im Grunde zu nichts anderem als zu vertuschen, dass in uns eine schwarze Verzweiflung herrscht. Es ist wie ein Rausch, der von den eigentlichen Baustellen unserer Seele erfolgreich ablenkt.

Natürlich ist dabei aber auch der Wunsch des inneren Kindes, dass denkt: „Wenn ich artig bin, wenn herausfinde, wie ich die Erwartungen meiner Eltern erfüllen kann, dann werde sie mich endlich lieben.“ 

Mit unseren Eltern konnten wir vielleicht den Kampf ums Gesehen und Geliebt Werden nicht gewinnen, wie sehr wir uns auch angestrengt haben. Aber mit diesem Partner schaffen wir es vielleicht. Jetzt sind wir ja erwachsen und können viel, viel mehr Strippen ziehen. Irgendwann muss der andere sich doch ändern!

Ich hab’s hier und im „Glückskeks“ schon 438 Mal geschrieben: Stell Dir einfach vor, Dein/e Partner/in ändert sich nicht mehr und Eure Partnerschaft bleibt genau so, wie sie heute ist: Möchtest Du bleiben? Und vor allem: Wie wird es Dir dann gehen, jeden einzelnen Tag? Möchtest die nächsten Jahre Du so leben, wie Du jetzt lebst?

Wenn die Antwort „Nein“ ist, dann könntest Du anfangen zu überlegen, wie es für Dich weitergehen kann. Für Dich, nicht für irgendeinen anderen Menschen. Was aus Fridolin wird und warum Fridolin ein Fridolin ist, das ist sein/ihr Problem. 

Nicht Deins.

Mach’s Dir fein. Wirklich. Dir. Erst Dir und dann gucken wir mal nach den anderen.

Dr. Tewksbury: All right, refresh my memory. Wasn't it your mother who first sparked your interest in psychiatry?

Frasier: Yes, it was. I remember the exact day. I was eight. I'd come home crying because one of the older boys had thrown my copy of "The Fountainhead" under a bus. My mother explained to me it wasn't because he didn't like the way I walked or because I wore an ascot to school. It was because he didn't like himself. And at that very moment, I became a student of human behavior. It was as if someone had given me an instruction manual explaining why people acted the way they did.

Dr. Tewksbury: Not to mention a way to distance yourself from painful emotions.

Frasier: Oh, totally. I took a lot of grief for that ascot.

Dr. Tewksbury: So, you were drawn to psychiatry not because you like to help people, but because you feared them.

Frasier: I feared them?

Dr. Tewksbury: Psychiatry gives you objectivity. Objectivity gives you emotional distance. Distance makes you feel safe. (…)

Frasier: As a matter of fact, I- What is your point?

Dr. Tewksbury: My point is that at the age of eight, at eight, you began to use psychiatry as a way to deal with a world that scared you to death. And this lifetime achievement award has made you realize that your career is finite and once it's gone, all you'll have left is that frightened eight-year-old boy. (…)

Frasier: Would you like to hear my theory? You have no idea what you're talking about. I am not an eight-year-old. [opening the door] And you know something else? You're not my mentor any more!

Frasier, Fernsehserie, S8 E9 Frasier’s Edge aired 02/08/2002

Letzte Änderung: 6. Februar 2021