Na, Ihr Besten? Einen wunderschönen Herbstmorgen in diesem August wünsche ich Euch!
In den letzten Wochen bin ich in diversen Posts und Kommentaren in diesem Internet immer wieder über ein altes Mantra gestolpert: „Du solltest…“. garniert mit einer saftigen Portion Schuldgefühle.
Oh, es war nicht immer exakt ausformuliert. Manchmal war es verkleidet als „Das kann nun wirklich jede!“ oder „Wenn ich das kann, dann kannst Du das auch.“ Eine besonders charmante Form des Humble Bragging.
Es klingt auf der Oberfläche bescheiden und ermutigend; im Grunde nimmt es die Schwierigkeiten und Kämpfe, die der andere gerade führt, nicht ernst.
Wenn ich mir vorstelle, ich würde herum laufen und jedem ins Gesicht knallen: „Wenn ich ein Psychologie-Studium abschließen kann, dann kann es wirklich jede!“, dann ohrfeige ich damit verbal all jene, die schon im Vordiplom aussortiert wurden (und das waren zu meiner Zeit ungefähr die Hälfte der Studierenden) und all jene, die sich jahrelang gequält haben und ihre Diplome nur mit Ach und Krach bekommen haben – und die, die nicht mal einen Studienplatz bekommen haben. Jeder von ihnen hat seine eigene, schwierige Geschichte, warum es nicht geklappt hat.
„Jaaa“, werdet Ihr jetzt sagen: „so ein Studium ist ja auch was gaaaanz anderes. Ich sprach ja nur von zehn Minuten Yoga jeden Morgen – das kann doch nun wirklich jede! Nur zehn Minuten! Das hat mir soooo gut getan.“
„Ich sprach ja nur davon, seine Finanzen endlich in den Griff zu bekommen.“
„Ich sprach ja nur davon, seinen Kindern eine Geburtstagstorte zu backen die aussieht wie ein Dolce-Gabbana-Alta-Moda-Laufsteg-Kostüm!“
Ach sooo. Na dann!
Was ich jetzt sage, wird einige von euch wahnsinnig überraschen, deswegen haltet Euch bitte fest: wir sind alle unterschiedlich. Und so wie wir unterschiedliche Begabungen haben, haben wir auch unterschiedliche Baustellen. Was Dir vielleicht leicht fällt oder gut tut, ist für eine andere die Vorstufe zum Inferno.
Jedes Mal, wenn wir unterstellen, eine unserer Leistungen sei keine Leistung, sondern easy-peasy-pille-palle, degradieren wir nicht nur uns selbst, wir ignorieren, dass wir eine Hürde mit Erfolg genommen haben und auf uns selbst stolz sein dürfen. Nein, wir treten auch jemanden, die vielleicht schon am Boden liegt oder machen ihr Schuldgefühle:
„Wieso gelingt mir das nicht? Alle anderen können das doch. Nur ich bin wieder der Depp, der das nicht kann.“
Nach meiner Erfahrung gibt es immer Gründe, warum jemand über ein bestimmtes Stöckchen derzeit noch nicht springen kann oder will. Und anstatt nach diesen Gründen zu fragen und Unterstützung anzubieten, klatschen wir derjenigen eine weitere virtuelle Ohrfeige mit dem virtuellen Sticker „Wer will, findet Möglichkeiten. Wer nicht will, findet Gründe!“
Hach, ja, auch das ist eine Methode, wie wir uns über jemand anderen erheben können: „Guck mal, sooo viel hat sie angeblich in ihrem Leben geschafft, aber zehn Minuten Yoga jeden Morgen, dafür ist sie zu faul. Dabei bekomme selbst ich das hin. Und ich bin ja nun wirklich unsportlich!“
Mag sein.
Die aufmerksame Leserin erinnert sich an meine Theorie der Kontrolletti-Sterne aus meinem Buch „Geht’s auch leichter!“ nach der wir nur eine begrenzte Menge an Energie zur Verfügung haben, um uns den Herausforderungen des Tages zu stellen.
Wir wissen in der Regel nicht, wie viele Kontrolletti-Sterne die andere gerade zur Verfügung hat und welche Baustellen in ihrem Leben vielleicht gerade enorm viele davon fressen.
Ist sie in Trauer? Arbeitet sie unter belastenden Umständen? Führt sie einen kostspieligen Rechtsstreit? Hat sie gesundheitliche Probleme? Gibt es etwas in ihrem Leben, das an ihr zehrt und ihr die Energie wegfrisst?
Wenn Du auf diese Frage antworten musst: „So gut kenne ich die Person eigentlich nicht, dass ich das beantworten kann.“, dann halt Dich einfach zurück mit „Das sollte doch nun wirklich jeder können.“
Meiner Erfahrung nach bewegen sich unglaublich viele Frauen um die 40 einem Burnout entgegen oder sind mittendrin. Die meisten von ihnen gestehen sich den nicht ein, sondern haben immer noch extrem hohe Erwartungen an sich. Wenn dann noch jemand von außen mit so einem Spruch vorbei geht, ist es weder hilfreich, noch ermutigend. Es erhöht den Druck, den die Person sich ohnehin schon selbst macht.
Unzählige Frauen kämpfen jeden Tag damit, Begrenzungen zu akzeptieren, ob die nun im Außen liegen oder in sich selbst. Sie erwarten von sich 150% Perfektion und Funktionsfähigkeit.
Wie wär’s, wenn wir einfach mal den Druck rausnehmen, vor allem, wenn wir unter uns sind?
Auch, wenn wir meinen, wir wüssten wirklich, was der anderen gut tun würde oder was sie in ihrem Leben ändern müsste, damit sie endlich gesund / glücklich /erfolgreich / schuldenfrei ist.
Auch, wenn wir meinen, wir müssten die andere informieren und aufklären -schließlich hast Du gerade Jesus gefunden, ähm nein, das war ein anderer Post, Moment… du hast gerade die vegane Ernährung für dich entdeckt oder Tantra oder Leinöl oder das Imkern. Glückwunsch. Freu Dich dran.
Es könnte die Möglichkeit geben, dass das bei Dir funktioniert und Dich glücklich macht – und für jemand anderen in seiner jetzigen Lebenssituation grundverkehrt ist.
Wenn es jemand ist, die Dir wirklich nahe steht, dann frag doch einfach mal: „Was würde Dir gerade gut tun? Was wünschst Du Dir?“
Und hör einfach mal zu.
Macht’s Euch fein.