Na, Ihr Besten da draußen?

Wenn nicht gerade das große C einem die Planung zerschießt, reise ich durch die Lande und arbeite mit Menschen in helfenden Berufen. Oft geht es um Schwierigkeiten, die Klienten haben. Machen wir uns nichts vor, wenn alles rund und super läuft, dann lädt niemand eine Psychologin ein, um über die Arbeit zu sprechen.

Wenn es um Klienten geht, die ein irritierendes Verhalten an den Tag legen, höre ich häufig den Satz: 

„Der will nur Aufmerksamkeit!“

Worauf ich üblicherweise euphorisch antworte: „Prima! Nichts leichter als das: Dann geben Sie ihm doch einfach Aufmerksamkeit!“ Auf diesen mutigen Satz werde ich üblicherweise mit einer Welle von „Ja, aber“ geflutet:

Ja, aber da könnte ja jeder kommen.

Ja, aber muss man das wirklich noch unterstützen?

Ja, aber wenn das alle machen würden!

Fun Fact: Das machen alle. Nur jeder ein bisschen anders. Wir wollen alle gesehen, gemocht und geliebt werden. Alle. Manche Menschen leisten deswegen besonders viel, sind besonders fleißig, zwängen sich in bestimmte Kleidungsstücke oder kaufen sich ein ungewöhnliches Auto.

Nur ist da ein kleiner, feiner Unterschied:

Wenn Kim Kardashian ihr unbekleidetes Hinterteil in eine Kamera streckt, und das Bild anschließend im Internet postet, wird das mit viel mehr positiver Aufmerksamkeit honoriert, als wenn ein geistig behinderter Mensch das ohne Kamera tut und nix im Internet postet. Anstatt ihn zu feiern, dass er oder sie so diskret ist, heißt es: „Das geht so nicht!“ Bei Kim Kardashian sagt sonderbarerweise niemand: „Die will nur Aufmerksamkeit!“

Was wirklich komisch ist, weil wir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sagen können: Wer seine Familie zuhause über Jahre von einem Kamerateam begleiten lässt, und bei jeder Gelegenheit ungebeten seine Nase in eine Kamera hält, der möchte gern gesehen werden. Der liebt die Aufmerksamkeit. Der braucht sie. Der will nur Aufmerksamkeit.

Wenn niemand den Wunsch hätte gesehen zu werden, dann wären uns viele wundervolle Filme und Musikstücke verloren gegangen. Hätte Meryl Streep gesagt: „Ach, ich stehe ja nicht so gern im Rampenlicht! Das ist mir nix!“, wären uns Stunden grandioser Unterhaltung verloren gegangen.

Hätte J.K. Rowling gesagt: „Mir reicht es, wenn die Geschichte in meiner Schublade liegt!“, dann wüsste niemand von uns, wie man am Bahnhof Kings Cross zur Plattform 9 3/4 kommt. Wäre das nicht sehr bedauerlich?

Irgendwann im Laufe der Zeit hat der Wunsch nach Aufmerksamkeit sich als etwas grundsätzlich Negatives etabliert. Dabei wissen wir, dass vernachlässigte Kinder häufig groben Blödsinn machen, nur damit ihre Eltern irgendwie auf sie eingehen. Weil negative Aufmerksamkeit immer noch besser ist als gar keine Aufmerksamkeit. Damit sind wir auch schon bei einem zentralen Aspekt: 

Die meisten von uns sind nicht wahllos bei der Frage, von wem sie Aufmerksamkeit möchten. Es sind ganz spezifische Personen, in deren Fokus wir stehen wollen: Oft unsere Eltern, unsere Familie, erstaunlicherweise unsere Partner_innen. Unsere Kolleg_innen. Menschen, die uns wichtig sind. Oder auf deren Meinung wir wert legen – was nicht unbedingt heißt, dass wir diese Menschen wirklich mögen.

Kennt Ihr den alten Spruch „Dinge, die man nicht braucht, mit Geld kaufen, das man nicht hat, um Leute zu beeindrucken, die man nicht leiden kann.“?

Gesehen werden oder gehört werden ist elementar wichtig für uns. Selbst die Menschen, die notorisch schüchtern sind, haben jemanden, von dem sie gesehen werden möchten. Oder sie träumen davon, jemanden zu finden, von dem sie gesehen werden möchten.

Sich nach Aufmerksamkeit zu sehnen und dafür verrückte Dinge zu tun, ist zutiefst menschlich. Je weniger Aufmerksamkeit wir bekommen, desto beklopptere Dinge sind wir bereit zu tun, um endlich gesehen zu werden. 

Gerade, wenn wir in unserer Kindheit übersehen wurden, wenn unsere Eltern mit sich und ihrem Leben so überfordert waren, dass sie für uns nicht genug Aufmerksamkeit übrig hatten, bleibt oft ein Defizit. Denn wenn die eigenen Eltern einen ignorieren, löst das bei den meisten Kinder extreme Ängste und Unsicherheit aus – je jünger das Kind ist, desto schlimmer. Eltern, die einen übersehen, vergessen möglicherweise, uns zu versorgen und das bedeutet: unser Leben ist in Gefahr.

Wer als Kind zu wenig liebevolle Aufmerksamkeit bekommen hat, wird einen Großteil des Lebens diesem Ziel widmen: Gesehen werden zu wollen um jeden Preis.

Wer das Gefühl hat, genug Aufmerksamkeit zu bekommen und einen Zustand an „Sättigung“ erreicht, ist oft in der Lage, andere, die das gerade brauchen, aufrichtig mit positiver Aufmerksamkeit zu überschütten: Ob das die eigenen Kinder sind oder alte Menschen.

Eine gute Gastgeberin hat den Fokus auf den Bedürfnissen ihrer Gäste. Von jedem Menschen, der im Service arbeitet, erwarten wir aufmerksames Verhalten. Aufmerksam umsorgt zu werden, hat etwas sehr Angenehmes.

Warum um alles in der Welt sollten wir das Menschen mit einem erhöhten Betreuungsbedarf vorenthalten? Vielleicht sollten wir einfach mal anfangen, Menschen, die es brauchen, mit Aufmerksamkeit zu überschütten, bevor sie zu verzweifelten Handlungen greifen.

Für heute, macht’s Euch fein.

Kategorisiert als:

Inneres Kind, personal growth,

Letzte Änderung: 21. November 2020