Guten Morgen, Ihr Besten aller Herzbarsten.

Während draußen der Montagmorgen so richtig Fahrt annimmt und sich in seiner vollen Geräuschkulisse präsentiert, habe ich noch ein wenig Zeit, ehe der Wochenbeginn auch mich einholt. Zeit um die Gedanken vom letzten Post nachwirken zu lassen.

Mutig warf ich die Behauptung ins Internet, dass der Perfektionsanspruch an uns selbst besonders dann sehr hoch ist, wenn wir jemanden in der Familie haben, der ein dunkelschwarzes Schaf ist, die Familie sich für ihn/sie schämt und sich deswegen mit aller Kraft bemüht, das Schaf im bunten Mosaik der Herde unauffällig wirken zu lassen. 

Wenn wir als Kinder in einer Familie mit dem Auftrag aufwachsen, ein solches „Geheimnis“ zu wahren, dann liegt über allem ein Schleier von schlechtem Gewissen und Scham. Dann strengen wir uns besonders an, um bloß nicht den Eindruck zu erwecken, bei uns zuhause stimmt etwas nicht. 

Da werden Kinder angehalten, besonders gute Noten zu produzieren, keine Flecken auf den Kleidern zu haben und ein akkurates Benehmen an den Tag zu legen, mit dem man die Großmutter der Queen hätte beeindrucken können – damit niemand sieht, was hinter geschlossenen Türen alles nicht stimmt.

Was ich besonders traurig finde: Kinder, die so aufwachsen, isolieren sich von anderen. Wenn wir nirgendwo sagen dürfen: „Meine Mutter trinkt heimlich.“, dann glauben wir auch irgendwann, dass es nur bei uns zuhause so komisch läuft, dass alle anderen Familien „normal“ sind – und wir erfahren nie den Trost zu hören: „Ich weiß, wie schlimm das ist. Bei mir zuhause ist es auch so. Mein Vater ist ständig bekifft.“.

Scham und Einsamkeit sind meist beste Freunde. Das ganze Prinzip von Selbsthilfegruppen beruht darauf, dass wir in einem geschützten Rahmen sagen können: „Dieses oder Jenes passiert in meinem Leben hinter den Kulissen.“ und jemand sagen zu hören: „Ich habe das auch schon erlebt. Du bist nicht allein.“ 

Je strenger unsere Familie jeden bestraft, der Wag den „Kreis des Vertrauens“ zu durchbrechen und die Familiengeheimnisse zu verraten, desto verschwiegener werden wir. Und desto mehr lernen wir, unser Unwohlsein, unsere Angst und unsere Wut zu ignorieren. 

Unsere Wut, unsere Trauer, unsere Angst zeigen immer wieder mit dem Finger auf das, was in der Familie nicht stimmt: Den Alkohol, die Lügen, die Gewalt, die Übergriffe, die Kälte, die Demütigung, das Allein-Gelassen-Werden. Wenn wir es schaffen, diese „negativen“ Gefühle auszublenden – vielleicht ist es dann ja gar nicht so schlimm? 

Hier beginnt der Vorgarten zur persönlichen Hölle: Wir relativieren unser Unglück: „Ok, meine Mutter trinkt und sorgt nicht für uns, aber wir haben doch ein schönes Haus und genügend zum Anziehen. In Afrika hungern die Kinder.“ „Ok, mein Vater verspielt unser Geld, aber wir haben ja genügend zu essen und besuchen eine gute Schule. Anderen geht es viel schlechter. Die haben nicht mal Geld, was sie verspielen könnten.“

Gefühle haben eine sonderbare Eigendynamik. Bis zu einem gewissen Grade lassen sie sich beherrschen und manipulieren, sie lassen sich verdrängen und ignorieren. Aber eben nur bis zu einem gewissen Grade. Verdrängen heißt im Grunde „Wir funktionieren weiter und gucken nicht auf das, was wehtut.“

Und darin sind wir Menschen Meister. Kein Roman kommt an die Stories heran, die Menschen sich selbst erzählen, wenn sie versuchen, ihre Gefühle zu ignorieren. Und wie geschäftig wir plötzlich sind! Wie fleißig. Ok, natürlich gibt es auch einfache Wege, wie wir Gefühle betäuben können (in diesem Blog immer wieder ausführlich vorgestellt). Viele von uns wählen die komplizierteren Wege: Sich den Tag mit Aufgaben und Arbeiten vollknallen. Putzen und Dekorieren. Irgendwas vor die Hunde gehen lassen und sich endlos Vorwürfe dafür machen. Allen anderen den Pöter hinterhertragen. Sich für alles unter der Sonne verantwortlich fühlen außer der eigenen Befindlichkeit. Und nicht zuletzt: Rationalisieren: sich und allen die es hören wollen endlose Geschichte erzählen, warum wir in einer unglücklichen Partnerschaft bleiben müssen, warum es wichtig ist, an dysfunktionalen Familienstrukturen festzuhalten. 

Interessanterweise ist eine der beliebtesten Techniken, die eigenen Gefühle in Frage zu stellen: „Mein Partner demütigt mich und hat als Sportart chronisches Fremdgehen gewählt, aber sollte ich nicht vielleicht an meiner Eifersucht arbeiten? Oder an meiner Mimosenhaftigkeit? Warum bin ich auch so leicht kränkbar? Schließlich sollte es doch lustig sein, als er mich neulich auf der Party als fette Platschkuh bezeichnet hat. Wieso nur konnte ich darüber nicht lachen? Bin ich vielleicht zu humorlos?“

Möglicherweise erwähnte ich es hier schon, zwei-, dreihundert Mal: Die Heilung beginnt damit, die eigenen Gefühle wahrzunehmen und ernstzunehmen. Heilung beginnt dann, wenn wir aufhören uns unsere eigenen Gefühle auszureden oder klein zu reden. Heilung beginnt, wenn wir aufhören, uns selbstmitleidig zu bedauern und anfangen, Mitgefühl mit uns und unserer Situation zu empfinden. 

So weit für heute.

Macht’s Euch fein.

Letzte Änderung: 17. August 2020