Na, Ihr so? Ja, ich auch.
Gestern war’s, da hatten wir in meiner Lieblingscommunity eine große Diskussion zum Thema: „Warum stellt jemand ständig anderen Unmengen an Süßkram vor die Nase, obwohl er selbst nie in deren Gegenwart isst?“
Neben den üblichen genervten Kommentaren: „Frag doch nicht uns, frag ihn selber! Mir doch egal!“ gab es unglaublich viele erhellende Kommentare von sehr klugen Frauen. Noch mal 1000 Dank all jenen, die sich die Zeit genommen haben mir ausführlich zu antworten.
Beim Lesen der vielen pfiffigen Kommentare wurde mir bewusst, dass ich übersehen habe, wie oft Alkoholsucht und Essstörungen sich gleichen, und dass beide manchmal die Komponente der Heimlichkeit haben können. So wie es beim Alkohol diejenigen gibt, bei denen jeder mitbekommen kann, welche Mengen sie sich reinhauen, so gibt es eben die Alkoholiker, die heimlich trinken.
Das scheint beim Essen ziemlich ähnlich zu sein: es gibt diejenigen von uns, die genau das gleiche essen, ob nun jemand zuguckt oder nicht, und dann diejenigen, die fein säuberlich dafür sorgen, dass man sie nicht essen sieht, weil sie (wie jemand hier so treffend formulierte) nicht wollen, dass die anderen denken: „Ach guck mal, die Fette isst schon wieder.“ Heimliches Essen – wenn wir also versuchen, zu vertuschen, wie viel wir wirklich essen – scheint allerdings eine ganze Welle an Komplikationen und Problemen mitzubringen. Es erfordert einen gewissen Organisationsaufwand.
Vermutlich spielt Scham beim Verheimlichen eine Rolle. „Was sollen denn die Leute denken?“. Da war sie wieder: die ewige Angst, von anderen verurteilt zu werden. Wahrscheinlich ist die Scham umso schlimmer und unangenehmer, wenn wir einen hohen Perfektionsanspruch an uns haben. Wenn wir von uns erwarten, fehlerfrei zu funktionieren. Ein glattes Bild nach außen abzugeben.
Wenn wir aus einer Familie kommen, wo es nur wenig Aufwand erforderte, ein schwarzes Schaf zu werden. Oder wenn wir aus einer Familie stammen, wo niemand mitbekommen durfte, dass jemand anders ein riesiges schwarzes Schaf war. Wo die Hauptaufgabe der gesamten Familie darin bestand, um Himmels Willen zu vertuschen, wie schaf-ig sich die eigene Mutter oder der eigene Vater tatsächlich benahm.
Je stärker wir von unserem eigenen Perfektionsanspruch abweichen, desto größer ist vielleicht die Verführung, sich selbst oder andere zu belügen. Alles auszublenden, was nicht dem perfekten Bild entspricht. Das fängt uU an beim Lieb-Gehabt-Werden-Wollen, geht über’s Konflikte vermeiden, bis zum Nicht-Negativ-Auffallen wollen. Wenn die Meinung aller anderen wichtiger wird als unsere Beziehung zu uns selbst.
Womit wir wieder bei „Spiel mir das Lied von der Coabhängigkeit“ wären: Das altbekannte Lied in einem Kontext aufzuwachsen, in dem man mit der Muttermilch eingetrichtert bekam, dass der Erhalt der Beziehung wichtiger sei als die eigene Würde, die eigene körperliche Unversehrtheit, die eigene seelische Gesundheit. Der Erhalt der Beziehung stand über allem. Wehe, frau wagte in irgendeiner Weise die Beziehung zu kritisieren oder anzuzweifeln. „Blut ist dicker als Wasser“, „Familie ist alles“, „Nach allem, was ich für Dich getan habe“ – und immer wieder: „Was sollen denn die Leute denken?“
Wenn wir die Beziehung zu jemanden aufrecht erhalten müssen, der uns schädigt, dann verlieren wir die gute Beziehung zu uns selbst. Dann verlieren wir das Vertrauen in uns selbst.
Blöd nur, dass dieses Festhalten an einer Beziehung, die uns schadet, zu einem Schmerz wird, den wir mit uns herum tragen – und den wir ständig versuchen zu betäuben (Ihr wisst ja, das geht mit Shoppen, Essen, Verdrängen, Medikamenten, Alkohol… Hach, die Liste ist endlos.) Und weil wir sowieso keine gute Beziehung zu uns haben und zu jemanden geworden sind, den wir hassen, können wir uns auch unbegrenzt selbst schaden. Und ertragen, dass der andere uns unbegrenzt schadet. Geschieht uns ganz Recht.
Neulich las ich einen Kommentar über Selbst- und Fremdwahrnehmung. Vielleicht passt das auch zu diesem Thema: Wenn unsere Meinung über uns selbst derart schlecht ist, dass wir automatisch davon ausgehen, alle anderen verurteilen uns ebenfalls, dann werden wir wahnsinnig viel leisten und 1A funktionieren müssen. Dann dürfen wir uns nach außen keine Blöße geben.
Und dann geht im Grunde alles bergab. Schließlich sind wir dann doch nur Menschen – und was ist menschlicher als Dinge grandios in den Sand zu setzen und sich dabei hammermäßig zu blamieren? Die Blöße wird kommen, früher oder später. Und mit ihr das Sich-Schämen.
Kann sein, dass dieser verzweifelte Wunsch nach dem 1A-Eindruck der Start der Selbstlüge ist. Eine Ärztin hat mal nach Jahrzehnten Erfahrung auf der Rettungsstation zu mir gesagt: „Die Fähigkeit sich selbst zu belügen ist größer als die, alle anderen zu belügen“. Sie meinte zynisch: „Auf drei Fragen werde ich fast nie eine ehrliche Antwort erhalten: 1. Könnten Sie schwanger sein? 2. Könnte es sein, dass Sie eine sexuell übertragbare Krankheit haben? 3. Haben Sie Drogen oder Alkohol konsumiert?“
Was mich daran fasziniert hat ist: Die Ärztin in DEM Kontext anlügen, kann uns uU dramatischen Schaden zufügen. Wäre es nicht wichtiger, den Schaden abzuwenden, als zu versuchen, zu beeinflussen, was sie von uns denkt? Aber am Ende des Tages scheint es wichtiger zu sein, die Meinung des anderen über uns zu beeinflussen. Oder zumindest glauben wir, wir könnten das.
Als ich noch im Suchtbereich arbeitete, erlebte ich viele Alkoholiker als sehr bemüht um einen guten Eindruck. Ein bisschen nach dem Motto: „Ich bin das, was ich in Deinen Augen über mich sehe. Wenn ich in Deinen Augen lesen kann, dass Du mich für einen guten Menschen hältst, dann BIN ich ein guter Mensch. Wenn Deine Augen mich kritisch angucken, muss ich intensiver versuchen, dich zu überzeugen.“
Klingt aufwendig? IST aufwendig. In den Spiegel zu gucken und zu akzeptieren, was uns da wirklich entgegen guckt, ist eben nicht immer einfach. Anderen zu zeigen, wie wir wirklich sind, erfordert oft großen Mut.
Deswegen ist es nur bedingt eine gute Idee, den Menschen selber zu fragen: „Warum machst Du dieses komische Verhalten? Warum versuchst Du zu verheimlichen, dass Du Unmengen an (Alkohol, Süßigkeiten, Drogen…) zu Dir nimmst, wo es doch von außen immer sichtbarer wird?“ Denn wenn er es sich nicht eingestehen kann – wie soll er es denn dann uns gestehen können?
Ok, ich werde da weiter drüber nachdenken.
Für heute: macht’s Euch fein.