Na, Ihr da draußen?

Der Himmel über Berlin kann sich nicht entscheiden, was er will an diesem Juli-Morgen. Aber ich kann es. An diesem wunderschönen Sommertag, der zu Dampferfahrten und Familienausflügen animiert, möchte ich über Erfolg und Misserfolg nachdenken. Erinnert Ihr Euch noch an die 90er, als plötzlich jeder, der mal einen Wochenend-NLP-Workshop absolviert hatte, sich plötzlich Erfolgscoach nannte?

„Visualisiere Deine Ziele! Mach Dir eine Pinnwand mit Bilder. Sei proaktiv! Make things happen! Schreib die Ziele genau auf! Formuliere SMARTE Ziele! Zerlege sie in Einzelschritte. Und jetzt: auf die Plätze fertig los!“

Oh Mann, mir wird jetzt noch schlecht. Wenn das bei euch klappt, Glückwunsch, Happy Birthday, scroll weiter. Ach nee: Mach eine Liste für den nächsten Erfolg.

Persönlich bin ich ja pathologisch reaktiv, nie proaktiv gewesen. Manch eine von uns reagiert eben eher auf das, was ihr im Leben so passiert, als ständig proaktiv Pläne umzusetzen. Und das klappt auch. Für mich (und viele reaktive Menschen) war viel, viel effektiver sich zu fragen: Was hindert mich daran, dieses oder jenes zu tun? Was hindert mich daran, meine eigene Modelinie für Laubfrösche zu entwerfen? Was hindert mich daran, Bürotassen zu entwerfen, auf deren Boden steht „Wer das liest, ist doof!“? Was hindert mich daran, diese zehn Kilo abzunehmen? Was hindert mich daran, einen Partner zu finden?

Diese wunderbare Frage stelle ich ja nicht nur mit großer Begeisterung mir selbst, ich stelle sie auch im Seminar, ich stelle sie Patienten. Nicht selten kommt die Antwort „Wozu soll ich die ganze Mühe auf mich nehmen? Es gibt ja keine Garantie, dass es klappt. Ich glaube einfach nicht, dass ich es schaffen kann. Ich fühle mich mit meinem Problem so allein gelassen. Ich habe nicht die Kraft es anzugehen.“

Das schreit natürlich nach der zweiten Frage: „Welche Unterstützung würde Dir helfen?“

Und jetzt wird es richtig traurig, denn die Antworten sind oft erschreckend banal. Nicht etwa „ein Lottogewinn, 7.000 Mitarbeitende, ein eigenes Atomkraftwerk“, nein. Oft ist es einfach nur:

„Jemand, der an mich glaubt.“

Erinnert Ihr Euch, wie sich das anfühlt, wenn jemand vorbehaltlos an euch glaubt? Wie sehr das beflügelt und beruhigt? Wie sehr ein uns quasi Zen-buddhistisch zentriert? wie plötzlich die Atmung tiefer wird?

Jede von uns, die im Aufwachsen das Glück hatte, von wenigstens einem Erwachsenen begleitet zu werden, die/der an sie geglaubt hat, weiß, wovon ich spreche. (Ich spreche NICHT davon, seinem Kind ständig einzutrichtern „Du bist etwas ganz Besonderes, die Welt steht Dir offen, aus Deinen Körperöffnungen kommt reine Zuckerwatte und wenn Deine Englischlehrerin nicht einsieht, wie genial du bist, nehmen wir uns einen Anwalt!“, dem Erfolgsrezept, mit dem wir kleine Narzissten aufziehen.)

Ein Erwachsener, der unsere Begabungen ernst genommen hat und Spaß daran hatte, zu sehen, wie wir uns entwickeln, der sich mitfreuen konnte. Klingt klasse, oder?

Wenn wir nun aber von klein auf hören, wie unsere Familie jeden negativ kommentiert, der Erfolg hat („Ach, die hat sich doch bloß hochgeschlafen!“), wenn unsere Erfolge boshaft kommentiert werden („Eine Eins in Mathe? Jetzt werd bloß nicht überheblich!“), wenn wir nie erleben, dass sich jemand mit uns mitfreut… ganz ehrlich: wozu dann Erfolg haben?

Aber – wenn ich mir überlege, das wäre mir so gegangen, dass – egal, was ich tue, ich immer eine übergebügelt bekommen, nie jemand wirklich stolz auf mich ist oder sich richtig mit mir mit freut… wozu dann irgendwas leisten? Dann doch lieber gleich mittelmäßig bleiben. Ich würde wahrscheinlich resignieren und zu einem Einsiedler werden. Ich würde nur noch an Projekten arbeiten, die sowieso niemand außer mir versteht, damit sie nicht beurteilt werden können.

Erfolg braucht Durchhaltevermögen und Durchhaltevermögen braucht jemanden, der hinter uns steht und an uns glaubt. Jemand, der uns die Freiheit gibt, uns auszuprobieren, uns notfalls Tipps gibt, mit uns mitfiebert und uns tröstet, wenn es schief geht. Wenn das nicht Eure Familie beschreibt, dann braucht Ihr Freunde, die das tun. Wenn Eure Freunde das nicht schaffen, dann sucht euch neue.

Ein ziemlich einfacher Trick ist, sich zu fragen, ob wir selbst in der Lage sind, uns mit anderen mitzufreuen. Oder ob wir gehässig kichern, wenn jemand in unserem Umfeld scheitert. So lange wir die Erfolge anderer nicht mitfeiern und uns nicht mit ihnen mitfreuen, wird es in unserem Hinterkopf immer einen zuverlässigen Erfolgsverhinderer geben: „Wozu anstrengen? Bringt doch eh nichts!“

So lange wir das Scheitern unserer Freunde nicht mit ihnen zusammen betrauern, werden wir uns schämen, wenn wir selbst scheitern. Wir werden uns trotzig zurückziehen und schmollen – und uns am Elend anderer erfreuen. Neid ist Gift für eigenen Erfolg. Neid ist das Gefühl: „Es ist nicht genug für alle da! Wenn der/die erfolgreich ist, nimmt er/sie mir etwas weg! Wieso der/die und nicht ich?“. Neid macht bitter und häßlich.

Nicht zuletzt wird Erfolg nur möglich, wenn wir unser eigenes Scheitern in Kauf nehmen. Wenn wir sportlich an die Sache herangehen und uns sagen: „Ich mach das jetzt, schauen wir mal, was passiert. Vielleicht klappt’s, vielleicht klappt es nicht. Aber wenn ich es nicht versuche, kann es nicht klappen.“

Erfolg wird übrigens auch nur dann möglich, wenn wir akzeptieren können, dass Erfolg unser Leben vielleicht nicht ändern wird. Vielleicht schreibe ich DEN Bestseller, aber meine Mutter liebt mich immer noch nicht. Vielleicht nehme ich zwanzig Kilo ab, aber meine Ehe ist immer noch unglücklich. Vielleicht bekomme ich den tollen neuen Job mit dem tollen Gehalt, aber er macht mir keinen Spaß. Vielleicht bin ich nun endlich „Künstler“, fühle mich aber nicht so künstlerisch, wie ich dachte, dass ich mich fühlen würde.

Für heute, macht’s Euch fein und freut euch mit jemandem mit.

Kategorisiert als:

personal growth, Selbstfürsorge,

Letzte Änderung: 28. Juli 2020