Na, Ihr Besten aller Liebsten?
neulich war wohl Shapeware-Tag, sagte eine Werbeanzeige auf Insta. Dort zu sehen eine Frau mit einer beachtlichen Menge an Speckrollen, die sich in ein Hemdchen wickelt und plötzlich eine Sanduhr-Silhouette zu haben scheint. Die neue Form sei ihr von Herzen gegönnt, Komma: ABER: Wo ist das Fett hin? Das muss doch mit Gewalt in den Körper reingequetscht werden? Während ich mich das noch frage, sagt die Anzeige: „Besonders bequem“. Ähm. Näää. Das KANN nicht sein. Das geht nicht. Das ist Basiswissen Physik.
Bei allem Wunsch nach Schönheit, ist der Preis nicht ein bisschen hoch? War da nicht die Sache mit dem Atmen und dem Verdauen? Möglich, dass meine Schmerzgrenze einfach zu niedrig ist. Guten Morgen – und damit sind wir mitten im Thema, während gerade die Kichererbsen auf dem Herd vor sich hin blubbern:
Wann ist unsere Schmerzgrenze erreicht? Wann tut es so weh, das wir bereit sind, etwas in unserem Leben zu ändern? Wann kommt der Moment, in dem wir in den Spiegel gucken und sagen: „Stop. Es reicht.“?
Leidensfähigkeit ist unterschiedlich stark ausgeprägt. Manch eine von uns kann lange Rückenschmerzen aushalten, ehe endlich die Yogamatte ausgerollt wird. Manch eine kauft stoisch alle paar Monate eine Kleidergröße größer, bevor sie bereit ist, ihre Ernährung umzustellen.
Bei Beziehungen wird das ganze noch mal schwieriger. Schließlich kann da der Partner/die Partnerin immer wieder Punkte sammeln, wenn doch „alles nicht so gemeint war“ oder mal wieder ein paar Tage ok-isch laufen. Interessanterweise glauben auch viele, die Beziehung sei leichter zu verändern als das eigene Gewicht oder die Rückenschmerzen.
Richtig schmerzlich wird es, wenn es die Kinder trifft. Was ich jetzt schreibe, trifft nicht auf alle Kinder zu, aber es kommt öfter vor mal vor als einer Kindertherapeutin lieb ist:
Manche Kinder sind die Seismographen ihrer Eltern. Wenn ihre Eltern über einen langen Zeitraum unglücklich sind oder psychisch krank werden, wenn das Verhältnis zwischen Mama und Papa dem Zustand einer offenen Feindschaft entspricht, dann neigen einige Kinder zu Krankheiten, Unfällen, sie benehmen sich plötzlich wie auf Speed, bekommen Essstörungen, verletzen sich oder ziehen sich komplett zurück.
Das Blöde bei Kinder-Symptomatiken ist: das könnte erstmal alles mögliche sein. Nicht immer erschließt sich sofort, wo die Ursache des Unglücks steckt. Immer wieder sind es auch Kombinationen: das Verhältnis zur Schule ist nicht gut, die Freunde nicht so prickelnd, die Gesundheit ist empfindlich, mit den Geschwistern ist es anstrengend…
Wenn das Kind dann plötzlich blaue Antennen aus dem Kopf streckt, überall rote Pusteln bekommt, nur noch rückwärts läuft und in Alliterationen spricht – dann wird’s ja wohl nicht an den Eltern liegen. Das sind die Antennen-Freunde, oder der viele Zucker. Oder das Smartphone, ganz klar.
Da wird dann mal eben die komplette Ernährung des Kindes auf Haferflocken umgestellt und das Smartphone konfisziert, aber… an die eine Baustelle wollen wir nicht ran: Das Familiensystem.
Nichts ist für Eltern schmerzlicher als die Vermutung, dass sie selbst mit ihren eigenen Problemen die Entwicklung ihres Kindes negativ beeinflussen könnten.
Alles, was uns schmerzt, ignorieren wir erst mal gern und weisen es weit von uns. „Näää, das liegt am Wetter.“ – „Das hat er/sie aus dem Internet!“
Vielleicht doch mal die tierischen Eiweiße weglassen oder den Pinguin aus dem Vorgarten schmeißen. Das Vieh macht ohnehin nur Dreck. Ist vermutlich alles nur eine Phase oder eine Pinguin-Allergie. Reden wir doch mal mit dem Kinderarzt.
Der Kinderarzt wird pflichtbewusst alles „Körperliche“ prüfen und abchecken. Mehr kann er auch nicht machen. Vielleicht fragt er irgendwann mal vorsichtig: „Gibt es gerade Stress in der Familie?“
Deswegen durchläuft ein Kind mit Symptomen, die ihren Ursprung im Unglück der Familie haben, oft erstmal ein längeres Martyrium an Diagnostik. Da werden Allergien und Unverträglichkeiten getestet und Medikamente ausprobiert, dass es eine helle Freude ist.
Als Eltern macht man das auch gern mit, schließlich weiß man ja aus Erfahrung, dass der Besuch beim Kinderarzt flott erledigt ist: Man zeigt das Kind vor, es gibt eine schicke Diagnose, zwei Mittelchen und nach ein paar Tagen ist alles wieder gut.
Wenn zum ersten Mal nicht alles wieder gut wird, und wir Folgetermine vereinbaren, hoffen wir, dass früher oder später das richtige Mittel gefunden wird, und DANN alles wieder gut wird. Muss doch. Menno!
Wenn sich dann herausstellt: es ist keine einfache Infektionskrankheit, kein „Wehwechen“, dann kommen die Fachärzte ins Spiel.
Gucken wir mal ganz kurz von der anderen Seite auf das Bild: Was, bitte schön, soll denn ein Kind tun, wenn zuhause die Luft zum Schneiden dick ist? Wenn ein Elternteil einen ständig ignoriert oder unter Druck setzt? Wenn Eltern sich nicht trauen Grenzen, zu setzen oder die Grenzen zu hart sind?
„Lieber Vater, liebe Mutter, ich fühle mich hier massiv unwohl und bin ständig in Angst. Ob Ihr wohl bitte mal einen Elternkurs besuchen könntet und Eure Paardynamik anders gestaltet würdet? Danke.“
Kinder lernen früh, andauernden seelischen Schmerz zu verdrängen – und der kommt dann oft an anderer Stelle als interessantes Symptom oder als anstrengende Verhaltensauffälligkeit zum Vorschein.
Übrigens so ähnlich wie bei Shapeware: Frau kann das Fett wegdrücken, aber es verschwindet davon nicht. Es quetscht die Organe zusammen. Im blödsten Fall nimmt es die Luft zum Atmen.
Wenn unser Kind also anfängt, solche interessanteren Krankheiten zu entwickeln oder sein Verhalten derart verändert, dass wir es kaum wiedererkennen, dann sollten wir überlegen, ob wir als Eltern uns nicht einen netten Familien- oder Paartherapeuten suchen, und mal mit dem ans Aufräumen gehen.
Vielleicht sagt der am Ende der Behandlung: „Mensch, Sie sind ja das glücklichste Paar, dass ich hier je getroffen habe! Ich weiß gar nicht, was Sie hier wollen!“ – aber dann können wir wenigstens ausschließen, dass das Unglück unseres Kindes ein Produkt unseres eigenen Unglücks ist.
Aus Angst, dass wir vielleicht Dinge über uns oder unsere Partnerschaft erfahren, die wir nicht wissen möchten, nicht zum Therapeuten zu gehen: puh. Hey, WIR sind doch die Erwachsenen. Wir sollten damit fertig werden. Wir haben doch schon bewiesen, dass wir schwierige Dinge schaffen können.
Zum Beispiel uns in Shapeware stopfen.
Habt einen guten Start in die Woche!
Vielen herzlichen Dank für deinen Text und das tolle „bildliche“ Beispiel – darf ich dein Beispiel in meinen beruflichen Kontext nutzen ? Ich arbeite im Kindergarten und kann oft beobachten, wie viele Kinder und Eltern über ihre Schmerzgrenze sind und handeln. Oft empfinde ich als erschreckend, wie hoch einige Schmerzgrenzen zu sein scheinen … Aber dennoch hat jeder seine eigene Schmerzgrenze und seine eigene Wahrheit der Situation. Auch wenn es für uns anderen schon lange sichtbar zu sein scheint.
Innerhalb meiner Zusatzausbildung zur systemischen Beraterin habe ich jedoch die Erfahrung gemacht, dass Familien eher selten zur Therapie gehen, da diese ja doch recht hohe Kosten mit sich bringt. Da wäre also Verbesserung auf jeden Fall wünschenswert.
Hallo liebe Sybille, danke für Deinen Kommentar! Ich freue mich, wenn Du mein Beispiel nutzt 🙂 Und ich teile Deine Beobachtung, dass die Kosten Eltern oft abschrecken. Allerdings werden auch kostenfreie Angebote von den Wohlfahrtsverbänden oder den Landkreisen selten angenommen. Schade, da arbeiten ja auch oft tolle Kolleginnen. Ganz herzliche Grüße!